Mittwoch, 13. Juli 2011

Saisonabschluss



Tobias und Karsten tranken Bier an der Theke einer beliebten Fußballkneipe von Valparaiso. Um sie herum war alles rot und die beiden fast schon blau. „Chi - Chi – Chi – Le – Le – Le! Viva Chile“ brüllten die anderen Gäste in kurzen Abständen. Über die Bildschirme flimmerte der Pazfikklassiker Chile – Peru. Eine Partie der Copa America, die Platz für Gespräche ließ. „Wie ist eigentlich die Bundesligasaison gelaufen?", wollte Tobias wissen. Er war schon länger unterwegs und hatte das Finale gar nicht mitbekommen, erklärte er. Ein Lieblingsthema von Karsten, BVB-Fan: „Also meine Borussia ist Meister, dann folgen Leverkusen und München. Vierter wurde 96...“ „Wie?“, unterbrach ihn Tobias erstaunt, „Die Roten im Europapokal?". Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit Platz Vier. Seine Roten waren ursprünglich ein Team für die untere Tabellenhälfte und kaum war er eine Weile in anderen Ländern unterwegs, öffneten auch seine Lieblinge neue Horizonte. "Sag mal, so sehr interessiert dich der Kram nicht, oder?", fragte ihn Karsten, der von der Unwissenheit seines Gesprächspartners noch überraschter war, denn Tobias trug ein 96-Trikot. Die Saison 2010/11 war längst Geschichte, für Tobias waren die Meldungen neu.

Karsten ahnte nicht, dass Tobias ein glühender 96-Fan war, aber der vermeintliche Ignorant hatte lange abgeschaltet. Ein dreiviertel Jahr lang ist er mit dem Rad durch Chile gestrampelt. Auf seiner Reise lies er das Internet ebenso wie deutsche Zeitungen unangestastet. Einfach mal so richtig weg sein, lautete sein Plan. Tobias wollte raus aus dem Alltag und rein in das fremde Land am anderen Ende der Welt. Keine Notizen bei sozialen Netzwerken, keine Blogeinträge sollten ihn davon ablenken. Nachrichten aus Deutschland blieben in Europa. Ungewöhnlich in diesen Tagen, aber er war konsequent: „Früher gab es das auch alles nicht.“Tobias hat nie verstanden, warum einige Leute in ihrem Urlaub die ganze Zeit am Computer oder Telefon klebten, um der Welt mitzuteilen, wie lecker die Empanada und wie beschissen das Bahnhofsklo waren. „Am Internet kann ich zuhause genug abhängen“, war sein Kommentar.

Karsten fragte sich, ob er einem Menschen aus vergangenen Jahrhunderten gegenübersaß. Anders als Tobias genoss er das globale Dorf im kleinen Notebook. „Damit bin ich unabhängiger und kann von überall alles erfahren, was ich will.“ Er schrieb regelmäßig seinen Freunden nach Hause, so blieb auch während des Auslandssemesters in Kontakt. „Das stimmt, aber ich wollte nur das wissen, was ich mit meinen Augen sah.“ Bundesligaergebnisse waren daher ein Geheimnis des anderen Kontinents, obwohl Tobias im 96-Trikot durch die Atacama-Wüste radelte und mit einer schwarz-weiß-grünen Mütze durch die Nationalparks im Süden stiefelte.

„Hast du nie zuhause angerufen?“ Natürlich habe er das, erklärte Tobias und sein Vater musste sich auf die Zunge beißen, um nicht die 96-Ergebnisse zu verraten. Die Spieltermine durfte der alte Herr aber verraten, im Herzen war der Aussteiger nämlich dabei. Er sang stets egal wo kurz vor dem Anpfiff das Lied „96 – alte Liebe“. „Das war manchmal richtig peinlich, denn ich war unter Leuten, beim Gottesdienst, am Fahrkartenschalter oder in Begleitung einer hübschen Eroberung“, gestand er. Sein Gegenüber lachte: „Da hast du also die tollste Saison seit Jahrzehnten verpasst und dich nebenbei zum Trottel gemacht.“ So ärgerlich war das jedoch nicht, außerdem hatte er gleich ein neues Reiseziel für eine längere Radtour: das erste Auswärtsspiel von 96 im Europapokal.

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