Sonntag, 11. April 2010

Auf Schalke ist Verlass


„Ich verstehe zwar kein Deutsch, aber du hast bestimmt heute früh Fußball geguckt“, meinte mein Nachbar am Samstagnachmittag. „Und dein Verein hat gewonnen, richtig?“, fragte er ergänzend. Das hatte der Mann gut erkannt. Er wohnt im ersten Stock und mein Apartment ist in der vierten Etage. Mein Jubel war also im ganzen Haus zu hören. Wunderbar! „Wer hatte eigentlich gespielt?“, wollte er wissen. „Hannover 96 gegen Schalke 04“ antworte ich. „Ach so.“

„Ach so?“ Was für ein Spiel! Ich konnte die Begegnung nur im Fernsehen verfolgen, trotzdem hatte ich so sehr mitgefiebert, dass ich völlig vergas in einer Wohnung in Concepción und nicht im Niedersachsenstadion zu sein. Ich hatte schon vorher einen Sieg erwartet, weil auf Schalke 04 einfach Verlass ist. Auf der Mannschaft liegt der Fluch nicht mehr Meister zu werden. Sie muss daher stets irgendwo ihre Titelchancen verspielen und der Tabellensiebzehnte Hannover 96 bot sich dieses Jahr als ideale Blamagehilfe an, doch war die Schalker Niederlage eigentlich nicht so blamabel . Die Roten zeigten lange vermissten guten Fußball mit Leidenschaft und gewannen verdient mit 4:2. Platz 16 sowie sehr viel Hoffnung sprangen dabei raus.

Jedes 96-Tor bekam mein Viertel lautstark mit. Die Fenster waren wegen des sonnigen Wetters weit offen. Es wird an diesem Sonnabend kaum jemand lange ausgeschlafen haben. Nach dem Abpfiff wurde ich allerdings in die örtliche Realität zurückgeworfen. Außerhalb des Cyberspace war niemand, der meine Freude so richtig teilen wollte. Zum Glück wiederholte golTV das Spiel am selben Tag dreimal. Ich guckte mir sogar lieber die Aufzeichnung erneut an, statt den Clásico zwischen Deportes Concepción und Naval im Stadion zu sehen. Jede andere Partie war an diesem Tag einfach emotionslos. 96 lebt wieder.

Freitag, 9. April 2010

Rituale im Abstiegskampf


Manch einer geht die letzten 96 Meter rückwärts zum Stadion oder ist genau 96 Minuten vor dem Anpfiff auf seinem Tribünenplatz. Andere wiederum vergraben tote Katzen unterm Spielfeld und begießen die Torpfosten mit 96 Jahre altem Wein. Jeder hat seine Rituale, mit denen er seinen Lieblingsverein zum Klassenerhalt helfen möchte. Die meisten Fans unterstützen ihre Elf vor Ort, für mich ist das jedoch unmöglich.

Concepción liegt etwa 13.000 Kilometer vom Niedersachsenstadion entfernt. Da kann ich noch so laut anfeuern, mich hört auf dem Platz kein Mensch. Lediglich die Nachbarn klopfen an der Tür, um sich zu beschweren. Überhaupt haben in dieser Saison alle meine taktischen Überlegungen versagt. Ein Bier beim Spiel half genauso wenig wie Kaffee. Es war egal, welches Trikot ich trug, das hatte keinerlei Einfluss auf den Ausgang. War ich via Internetstream oder TV dabei, lief es auch völlig unterschiedlich. Selbst die Notlösung auf eine Partie zu verzichten nützte wenig. Hannover verlor meistens und punktete selten. Ratlos wie Mirko Slomka schaute ich den Kickern zu und suche nach der richtigen Taktik.

Das Spiel gegen Schalke 04 wird endlich mal wieder vom Sender golTV direkt übertragen. Anders als bei den ruckeligen Internetstreams meine ich bei den Fernsehbildern tatsächlich einen gewissen Anteil am Ergebnis zu haben. Ich werde meine 96-Fahne vor dem Fernseher ausbreiten, meinen Schal über den Apparat legen und vom Sofa aus im Feldschlösschen-Trikot die Roten vor dem Abstieg bewahren.

Mittwoch, 7. April 2010

Abstiegserfahren und trotzdem standfest


Hannover 96 steckt im Tabellenkeller. Sowas zerrt an den Nerven und es scheint, als sei der drohende Absturz besonders katastrophal. Eigentlich müssten es die Fans der Roten besser wissen. Ligawechsel gehören bei diesem Klub dazu. In den 70ern und 80ern war er eine Fahrstuhlriege. Zum hundertjährigem Vereinsjubiläum 1996 ging es sogar in die damalige Regionalliga. Ein Andenken an diese schwärzeste Saison steht auch in Concepción in meinem Geschirrschrank: das oben abgebildete Bierglas.

Es hat in den vergangenen Jahren mit einer hohen Belastbarkeit beeindruckt. Diverse Umzüge hat es überstanden. Das 96-Glas fiel in die Hände schwankender Partygäste und selbst nach der langen Flugreise von Deutschland nach Chile blieb es ohne jegliche Kratzer. Im Morgengrauen des 27. Februar hat es erwiesen, wie unerschütterlich es ist. Nach dem Erdbeben der Stärke 8,8 sind keinerlei Mängel zu beanstanden. Andere Trinkgefäße lagen dagegen in Scherben zerstreut auf dem Küchenboden. Ruhig ist es immer noch nicht, zahlreiche Nachbeben rütteln weiterhin an seinem Boden. Diese meistert das Glas mit Bravour. Soviel Standfestigkeit sollte auf die aktuelle 96-Mannschaft abfärben, bebt es doch in dieser Saison permanent in der hannoverschen Fußballwelt.

Sonntag, 4. April 2010

Ein Punkt im Hamburger Hafen


Zweite Liga. Ich beschäftige mich derzeit viel mit ihr, obwohl ich sie eigentlich vergessen wollte. Sie ist längst wieder bei mir. An den Wochenenden verfolge ich per Internetradio das Gegurke aus dem Bundesligaunterhaus zum Frühstück. Es hat etwas Gemütliches und außerdem habe ich die Zweite Liga stets gemocht. In den 80er Jahren habe ich in jener Spielklasse 96 als meine Passion entdeckt. Heute passen Oberhausen, Paderborn, Union Berlin etc. gut zum Morgenkaffee und sind eine Einstimmung auf die Partien meiner Roten. Die Vorstellung, dass Hannover ab August das Frühprogramm sein wird, ist jedoch gruselig. Einen Abstiegskampf aus der Entfernung mitzuerleben ist hart, deshalb war ich vor dem Hamburg-Spiel extrem nervös.

Ich will einfach nicht ausschließlich Zweite Liga um mich herum. Es genügt schon, dass ich seit meinem Umzug von Santiago nach Concepción hauptsächlich Primera B-Spiele im Stadion sehen kann: Deportes Concepción, Lota Schwager und Naval de Talcahuano. In der Region sind die populären Teams unterklassig, Fernandez Vial sogar in der Tercera. Nur Huachipato und Universidad de Concepción rumpeln ganz oben herum. Die beiden letztgenannten erwärmen mein Herz aber nicht. Der Werksverein versprüht zu wenig Charme, die Unimannschaft ist blaugelb.

Mit Naval kann ich dagegen gut leben. Der Verein der Seeleute würde in Deutschland die Bezeichnung Kultklub bekommen. Trotz aller Pleiten und Rückschläge haben die Blau-Weißen ein treues Publikum. Ihr Stadion El Morro gehört zu den legendärsten Fußballplätzen Chiles. Hier wurde angeblich der Fallrückzieher erfunden, weshalb er in ganz Südamerika “La Chilena” genannt wird. Seit dem 27.02 ist Navals Heimstätte um eine Legende reicher. Ein Tsunami zerstörte die Anlage und spülte ein Schiff auf das Stadiongelände. Nachdem das Wasser zurück ins nahe Meer geflossen war, wurde das Spielfeld zum Zeltlager für die Erdbebenopfer umfunktioniert. Naval weicht bis zum Saisonende ins moderne Estadio CAP des Lokalrivalens Huachipato aus.

Am Samstag trat Naval zum ersten Mal seit dem Beben zuhause an. Gegner waren die Rangers aus Talca, eine beliebte chilenische Fahrstuhlriege. Die Fankurve der Gastgeber war gut gefüllt, der Rest blieb nahezu frei. Die Rangers gewannen, was ich trotz aller Sympathien für die Heimelf als gutes Zeichen ansah. Eine Equipe mit rotschwarzen Trikots entführte die Punkte aus einer Hafenstadt. Ein schönes Bild.

Mein Optimismus hielt an. Gegen Hamburg konnten meine Roten gar nicht verlieren, war ich mir sicher und behielt Recht. Hannover 96 bleibt natürlich auf der Intensivstation und ist weiterhin in Abstiegsgefahr, aber der Zustand hat sich stabilisiert. Das ist positiv, war doch der Verein bereits abgeschrieben. Das 0:0 beim Hamburger SV brachte die Roten in der Tabelle zwar nicht voran, neue Hoffnungen wurden allerdings geweckt. Die Mannschaft muss nicht immer verlieren, sofern sie kämpft. Das hat sie gegen den anderen HSV.

Freitag, 2. April 2010

Gar nicht an Köln gedacht


„Was ist das für ein Verein?“ fragte mich ein Junge, während er auf mein 96-Trikot zeigte. „Hannover 96, ein Spitzenteam aus Deutschland“, antwortete ich „Ah, Bundesliga, Vidal, Barrios...“ Genau, leider ohne Aturo Vidal und Lucas Barrios, dachte ich. „War der Klub schon Meister?“ Einmal? Zweimal! Das imponierte ihm nicht. Seine Helden von Colo-Colo sammelten im Abonnement die Pokale, erklärte er mir. Ich blieb unbeeindruckt, an solche Kommentare habe ich mich längst gewohnt. Sollte der Junge doch ruhig den Glanz seiner Lieblingself genießen. Er durfte es, das wahre Leben hatte ihm zuletzt arg zugesetzt. Ein Tsunami hatte seiner Familie in Dichato das Wohnhaus weggerissen. Das Trikot von Lucas Barrios war eines der wenigen Kleidungsstücke, die er noch besaß. Er trug es seit vielen Tagen und am vergangenen Samstag konnte er damit ein bisschen angeben.

Der Barrios-Fan war eines von vielen Kindern, die den Samstag trotz der erneuten 96-Pleite selbst für mich zu einem schönen Tag machten. Die Sonne schien, die Menschen lachten. Mit meinen Kollegen hatten wir für diejenigen, die beim Erdbeben alles verloren hatten, ein Familienfest organisiert. Die Aktion kam gut an. Für einen Moment konnten alle die gegenwärtige Situation vergessen und einfach Spaß haben.

Ich sollte per SMS leider erfahren, wie 96 zeitgleich wieder ein Beispiel bot, dass diejenigen, die gar nichts haben, am meisten geben. Eine fatale Großzügigkeit, die möglicherweise in der Zweiten Liga endet, doch das haben die Roten nicht begriffen, weshalb sie auch am 28. Spieltag weiter abstürzten. Hannover hat zwar durch die endlosen Niederlagen das Graue Maus-Image abgelegt und ist nun ein glühender Abstiegskandidat. "Da bevorzuge ich das Unscheinbare", dachte ich.

Ein Woche zuvor gab es sogar eine Renaissance des gewohnt grauen 96-Alltags, weil eine Niederlage beim VfB Stuttgart zu den normalsten Ereignissen der Roten gehört. Früher wurden jene erfolglosen Auftritte gar nicht beachtet. Die Slomka-Riege hatte allerdings in den Wochen zuvor ihr solides Fundament zerstört, so dass die Klatsche im Schwabenland die Existenzängste verstärkte. Seit dem 1:4 gegen Köln bleibt eine Therapiemöglichkeit: Punkte, möglichst viele.

Der Junge mit dem Colo-Colo-Trikot bemerkte, dass ich von einem Moment auf den anderen nicht mehr lachte, sondern betrübt dreinschaute. "Was ist los?", wollte er wissen. "Mein Verein hat verloren", antworte ich. Er war selbst Fußballfan genug, um den Stimmungswechsel zu verstehen und meinte nur: "Das passiert, dein Klub wird wieder gewinnen."